Chronologisch führt der Herausgeber Eberhard Rathgeb, Germanist und Feuilletonredakteur der FAZ, durch die kontroversen Themen dieser Zeit, beginnend mit Carlo Schmids Revision des "Patriotismus"-Begriffes 1945.
Jedem Zeitdokument geht eine Einführung des Herausgebers voraus, in dem die gesellschaftliche Ausgangslage geschildert wird, Gegenpositionen und Reaktionen aufgezeigt werden und - besonders spannend - Verweise auf spätere bzw. frühere Debatten ähnlicher Thematik gelegt werden.
Die Auswahl der Streitthemen und die Auswahl der Dokumente kann natürlich nur subjektiv sein: So wird in den meisten Fällen lediglich ein einziges Zeitdokument präsentiert und obwohl Rathgeb etwaige Gegenpositionen erläutert, wäre es an mancher Stelle doch angebracht gewesen, eine Gegenposition auch als Originaldokument zu liefern.
Der Herausgeber gliedert die 400 Seiten starke Textsammlung in fünf zeitliche Themenblöcke, die er wiederum durch Schlagworte konkretisiert:
1.) "Gericht und Gewissen" (1945-1956), insgesamt 18 Dokumente, z.B.:
Thomas Mann: "Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe",
Eugen Kogon: "Gericht und Gewissen",
Stefan Heym: "Memorandum zum Juni-Aufstand",
Karl Jaspers: "Die Atombombe und die Zukunft des Menschen"
2.) "Politik und Verbrechen" (1957-1966), insgesamt 19 Dokumente, z.B.:
Theodor W. Adorno: "Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit",
Ulrike Meinhof: "Hitler in euch",
Willy Brandt: "Wieder in Deutschland"
3.) "Kritik und Kampf" (1967-1977), insgesamt 20 Dokumente, z.B.:
Rudi Dutschke im Gespräch mit Günter Gaus,
Jürgen Habermas: "Rede über die politische Rolle der Studentenschaft in der Bundesrepublik",
Hans Küng. "Unfehlbar?",
Alice Schwarzer: "Frauen gegen den § 218",
Jean Améry: "Der ehrbare Antisemitismus"
4.) "Natur und Frieden" (1978-1989), insgesamt 14 Dokumente, z.B.:
Fritz J. Raddatz: "Bruder Baader",
Petra Kelly: "In der Tradition der Gewaltfreiheit",
Richard von Weizsäcker: "Der 8. Mai 1945 - 40 Jahre danach"
5.) "Krieg und Würde" (1989-2005), insgesamt 19 Dokumente, z.B.:
Christa Wolf: "Sprache der Wende",
Wolf Biermann: "Kriegshetze, Friedenshetze",
Otto Schily: "Rede zur Wehrmachtsausstellung",
Martin Walser: "Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede",
Joschka Fischer: "Rede zum Nato-Einsatz im Kosovo"
Die Materialsammlung "Deutschland kontrovers" von Eberhard Rathgeb ist ein "Must Have" für alle, die sich nicht nur mit Nacherzählungen und Übersichtsdarstellungen deutscher Zeitgeschichte begnügen möchten. Die Originaldokumente lassen viel eher den "Geist" der damaligen Situation spüren. Dies führt auf der einen Seite manchmal dazu, dass dem heutigen Leser manche Debatte kaum noch nachvollziehbar ist (wobei uns der Herausgeber mit seiner historischen Einordnung aber enorm weiterhilft).
Andererseits erstaunt sehr oft die Aktualität mancher Debatten, die bereits vor 40 Jahren geführt wurden, z.B. Alexander Mitscherlichs Essay über die sozialen Auswirkungen des Städtebaus von 1965!
Eberhard Ratgeb: "Deutschland kontrovers. Debatten 1945 bis 2005"
Erschienen bei der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn im November 2005
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